Der Heldenmythos, ein kulturübergreifender Mythos für Prozesse der Wandlung und Transformation, kennt verschiedene Phasen oder - dramaturgisch gesprochen - Akte. Nina Trobisch, Ko-Autorin des Buches Das Heldenprinzip. Kompass für Innovation und Wandel, Springer/Gabler 2017, fasste kürzlich unter Rückgriff auf den Heldenmythos zusammen, an welcher Stelle wir derzeit kollektiv und indivuduell stehen.
Am Anfang einer Held*Innenreise steht der Ruf, d.h. das Wissen, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann. Dieses Wissen trifft auf innere und äußere Widerstände. Es kommt zu einem Aufbäumen gegen die Notwendigkeit des Wandels, geboren aus der Angst, vertraute Sicherheiten hinter sich lassen zu müssen. Doch das innere Wissen, dass es Zeit ist, zu neuen Ufern aufzubrechen, bleibt. Unterstützende Kräfte kommen ins Spiel und irgendwann steht für den Held / die Heldin die Entscheidung an, dem Ruf in ein unbekanntes Land zu folgen. Der Übertritt vom Alten in Neue wird markiert durch eine Schwelle. Mit dem Übertritt beginnt der zweite von insgesamt drei Akten.
Corona, so Nina Trobisch, erweist sich in diesem Mythos als Hüterin der Schwelle zwischen der alten Welt und der neuen, noch unbekannten Welt. Corona prüft uns individuell und kollektiv, ob wir bereit sind, einen Pfad zu verlassen, der offensichtlich unsere Lebensgrundlagen zerstört. Sind wir bereit, uns auf die Suche nach einer nachhaltigen Zukunft für uns und unsere Kinder zu begeben, nicht ahnend, was und wie dies gelingen kann? Oder werden wir, getrieben von Angst, versuchen, den Zustand vor Corona wieder herzustellen in dem Glauben, Sicherheit in dem zu finden, was letztlich keine Sicherheit geben kann?
Wer die derzeitigen Diskussionen über den Exit vom Shut down verfolgt, kann sich kaum des Eindrucks verwehren, dass die Sehnsucht zurück zum Alten, Wohlvertrauten wächst. Milliarden werden aufgewendet, um Schaden abzuwenden, doch sie werden nicht aufgewendet, um unsere gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systeme so zu verändern, dass wir nachhaltige Wirtschaftskreisläufe etablieren und für eine sozial-ökologische ausgleichende Gerechtigkeit innergesellschaftlich, zwischen den Gesellschaften und zwischen Nord und Süd, Ost und West eintreten. Dies ist zutiefst besorgniserregend!
Harrison Owen, der Begründer der Open Space Technologie für die Transformation von Unternehmen und Organisationen hat einen wichtigen Satz gesagt. Wenn es gelingt, einen offenen Raum für Veränderungsprozesse zu schaffen, dann gehe es anschließend darum "to keep the space open". Der Corona-Schock hat eine Momentum der Öffnung geschaffen, in dem sich gezeigt hat, zu welch tiefgreifenden Massnahmen Menschen und Gesellschaften bereit sind. Abzulesen ist dies nicht zuletzt an den Finanzen, an den Billionen, die mobilisierbar sind - während dies bis dato immer als unmöglich angesehen wurde.
To keep the space open bedeutet für mich jetzt, mutig in ein unbekanntes Land aufzubrechen, inspiriert von der Sehnsucht nach einem nachhaltigeren Leben, nach einem achtsamen Umgang mit uns und dem Planeten, mit Mensch, Natur, Kosmos. Ein Rückfall in alte Gewohnheiten des Konsumismus, der Geldgier, der Feindseligkeiten, des Rüstungswahnsinns, der unbegrenzten Mobilität von Waren, Dienstleistungen und Menschen und der Ausbeutung unserer natürlichen Lebensgrundlagen verbietet sich dann ebenso wie eine blauäugige Hoffnung, alles werde schon gut gehen.
Wir Menschen sind Mitschöpfer in diesem Universum. Corona als Hüterin der Schwelle fordert uns auf, jetzt wirklich ernst zu machen mit dem Wissen das Albert Schweitzer formuliert hat Wir sind Leben, das leben will inmitten von Leben, das leben will. Wenn wir dies beherzigen, d.h. in unser Herz nehmen, finden wir die Kraft, mit Corona die Schwelle in das unbekannte Land des Neuen zu überschreiten und mutig nach Lösungen zu suchen, die dieses Leben in seiner Schönheit und Verletzbarkeit fördern.